Dienstag, April 17, 2007

Strange Encounter XVIII

Das Alto ist wie jeden Abend gut gefüllt. In dem urigen Jazzcafé nahe beim Touristentreffpunkt Leidseplein wird Live-Jazz geboten - der Andrang ist groß und schon um 22:00 Uhr ist es zu spät, um einen der spärlich gesäten Sitzplätze zu ergattern. Stehen also. Die Luft ist zum Schneiden, es fühlt sich an, als ob hier seit Jahrzehnten nicht mehr gelüftet wurde. Höchstwahrscheinlich ist das auch so. Es wird Bier getrunken und sich laut unterhalten - am hinteren Ende des schmalen Raumes spielt Saskia Laroo auf der kleinen, kaum wahrnehmbaren Bühne Trompete, begleitet von ihren Bandmitgliedern. Nach einer gefühlten Ewigkeit werden ein paar Plätze frei und wir lassen uns, vom Stehen bereits etwas erschöpft, auf die hölzernen Stühle und die Sitzbank an der Wand nieder. Es ist Zeit, von unserer erhöhten Position im hinteren Teil des Cafés den Blick schweifen zu lassen. Das Publikum ist bunt durcheinander gewürfelt, Studenten, Touristen aller Altersklassen, alteingesessene Amsterdamer, einige Stammgäste...Über die Jahrzehnte seines Bestehens hat sich das Alto einen festen Platz in der örtlichen Jazzszene erspielt.
Als ich mich umschaue, bleibt mein Blick an einem Mann haften, der bereits seit einiger Zeit scheinbar ziellos durch das Café streift. Er ist groß und relativ kräftig gebaut. Seine weißen Haare sind zurückgekämmt und kinnlang, er ist rasiert und sieht recht gepflegt aus. Wie alt er ist, ist schwer zu sagen, vielleicht 50, 60? Alter schätzen war noch nie meine Stärke. Sein Gesicht wird dominiert von markanten Wangenknochen, einem kräftigen, eckigen Kiefer und einer hohen, breiten Stirn. Die Augen sitzen tief in ihren Höhlen. Obwohl sie im Vergleich zum restlichen Kopf fast klein erscheinen, weiß er mit diesen Augen unglaublich stechende Blicke durch den Raum zu schicken. Die Mundwinkel sind nach unten gezogen, was ihn verbissen aussehen lässt, beinahe wütend. Tiefe Falten bahnen sich von seinen Nasenflügeln aus einen Weg abwärts und verstärken diesen Eindruck. Er hat einen leichten Buckel und läuft nach vorne gebeugt. Die Jacke zieht er nicht aus, obwohl es sehr warm ist. Seine Erscheinung ist einnehmend und gleichzeitig beängstigend, und ich kann meinen Blick nicht von ihm lösen. Sein Gebahren hat etwas Wahnsinniges, etwas ganz und gar von der Welt entrücktes. Er scheint voll und ganz in der Musik aufzugehen, starrt mit irrem Blick zur Bühne und bewegt seine Arme und Hände beschwörend zur Musik.
Manchmal spricht er Gäste an, dann beugt er sich tief zu ihnen hinunter und schaut ihnen eindringlich in die Augen, als wollte er sie hypnotisieren und tief in ihr Innerstes schauen, aber diese scheinen ihn nicht zu verstehen. Oder sie wollen es nicht.
Irgendwann kommt er zu unserem Tisch und bleibt vor mir stehen. Ich kann meinen Blick noch immer nicht von ihm lösen und frage mich mit einer unbestimmten Faszination, was wohl in seinem Kopf vorgeht. Er schaut mich an als wolle er etwas sagen, hebt beschwörend seine Hände, wobei er die Finger krallenartig spreizt, bewegt diese leicht kreisend und macht mit weit aufgerissenen Augen "Rrrrrr Rrrrrrrrrrr Rrrrrrrrrrrrrrrr" in immer weiter aufsteigenden Spiralen. Nun weiß ich was mir vorher schon dünkte: Der Mann ist komplett übergeschnappt! Ich schaue ihm weiter zu, wie er zum Rhythmus der Musik seine wirren Bewegungen und Laute von sich gibt und versuche zu ergründen was wohl in ihm vorgeht. Vergebens. Dabei schaut er unentwegt auf mich herunter, mit diesem eindringlichen, stechenden Blick, als wolle er mir etwas mitteilen. Eine Zeitlang versuche ich noch zu ergründen was in ihm vorgeht, dann wird es mir zu viel und ich beschließe ihn zu ignorieren. Meine Kommunikationsversuche hat er zumindest nicht zu würdigen gewusst.
Nach seinem Zwischenstop an unserem Tisch sehe ich ihn noch ab und zu zwischen den anderen Gästen auftauchen und hier und da ein halbvolles, herrenloses Bier abstauben. Hochkonzentriert hört er der Musik zu und macht bei einem furiosen Solo manchmal ein paar merkwürdige Bewegungen und wohl auch Geräusche, die aber im allgemeinen Geräuschpegel untergehen. Dann versinkt er wieder in seiner eigenen, unergründlichen Welt.

3 Comments:

Anonymous Anonym meint...

Huch, aus was für einer Parallewelt hat der Gute denn bei unsereins mal reingeschaut ??
(Exzellente Story, erinnert mich in der bildhaften Beschreibung an Karl Marx vom 7.10.06.
"Lieber Herr Ver meer,
davon woll´n wer mehr !")

17:44  
Anonymous Anonym meint...

Äh, P.S.,
hast Du auch die G´schichten "Strange Encounter, Volume I to XVII" schon fertig geschrieben?!

17:48  
Blogger Oles wirre Welt meint...

Saskia Laroo... herrje... die hab ich vor... herrje... etwa zwölf Jahren in Leeuwarden live gesehen. Damals fand ich sie vergleichsweise heiß. Ich war allerdings auch erst fünfzehn. Witzig. Feiner Text, Herr W. und jazzfunkige Grüße nach Amsterdam. Ich hoff', Dir macht's da immer noch Spaß?

10:09  

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